„Wir wollen die Welt von Morgen mit den Mitteln von Gestern verstehen. Das geht schief.“

Der Politologe Ivan Krastev über die Herausforderungen Europas durch Migration und Integration, die Entwicklung des Kontinents in Zeiten der Krise und die zukunftsprägende Rolle der Jugend.

von
Peter Arp
und

Peter Arp: Sie stammen aus Bulgarien. Wir sprechen jetzt in Wien miteinander, wo Sie arbeiten. Aber unterwegs sind Sie, als rastlos Reisender, in der ganzen Welt. Sind Sie eine Art privilegierter Migrant?

Ivan Krastev: Ich wurde 1965 geboren und meine Art zu reisen und zu leben war damals für mich unvorstellbar. Bulgarien war in meiner Jugend ein sehr abgeschottetes Land. Man überschritt keine Grenzen, das war nicht Teil unserer Erfahrung. Das vergisst man leicht. Grenzen innerhalb Europas zum Beispiel existieren für meine 18-jährige Tochter nicht, sie ist schockiert, wenn sie nach ihrem Reisepass gefragt wird. Ich machte mich erstmals 1990 Richtung Westen auf. In meinem ganzen Leben hat mich nichts mehr beeindruckt als mein Besuch in Belgrad. Im Vergleich zu Sofia war Belgrad für mich weit überwältigender als Paris oder London, die ich viel später bereiste. Für uns war Mobilität die Definition von Freiheit; die Möglichkeit einfach so andere Städte besuchen zu können. Aber egal wohin ich reise, ich bin und bleibe Bulgare, das heißt meine Weltanschauung ist sehr von meinen ursprünglichen Erfahrungen geprägt.

Arp: Die Migration, also jene Mobilität, über die wir miteinander sprechen wollen, ist eher eine Zwangsmobilität. Vor kurzem habe ich mich mit einem syrischen Flüchtling unterhalten, der in Österreich seine neue Heimat gefunden hat. Viele andere jedoch in der Community, meinte er, seien zwar körperlich hier, befänden sich seelisch aber nach wie vor in Damaskus oder Aleppo oder sonstwo in ihrer alten Heimat. Sie seien weder gänzlich geflohen noch wirklich angekommen, sondern gefangen in einer Art Zeitschleife. 

Auf der anderen Seite fühlen sich viele Einheimische, in Österreich genauso wie in Deutschland, durch Geflüchtete bedroht, geradezu belagert. Es ist also nicht einfach zu definieren was für jemanden Zuhause ist, was es bedeutet existenziell bedroht zu sein, oder wie wir neue Wege finden können um miteinander auszukommen. Wir haben allerdings auch keine Alternative dazu.

Der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Migranten besteht darin, dass der klassische Flüchtling nicht kommt weil er das wollte.“

Krastev: Das ist eine sehr wichtige Frage. Als wir die Globalisierung noch mochten, erfuhren wir sie unter anderem in Form von Touristen, die kamen, die ein bisschen blieben, ihr Geld bei uns ausgaben, sich vergnügten, lächelten, und dann wieder heimreisten. Der Tourist stört nicht, er ist kein Problem, er erzeugt positive wirtschaftliche Auswirkungen. Und plötzlich kehrt derselbe Tourist, den man gestern noch mochte und willkommen hieß, als kriegsvertriebener Flüchtling zurück. Der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Migranten besteht darin, dass der klassische Flüchtling nicht kommt weil er das wollte. Viele dieser Leute hatten gute Jobs und schätzten ihr Zuhause. Ihre Seele ist tatsächlich oft noch dort. Nun haben sie keine Ahnung, ob sie zurückkehren können, ob das überhaupt möglich ist, denn ihre Heimat wurde sowohl durch Bomben verwüstet als auch durch die Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen. Denn diese Leute sind ja nicht nur vor dem Krieg geflohen. Der ist ja zugleich ein Bürgerkrieg, was manche ihrer Nachbarn zu ihren Feinden machte.

Andererseits empfinde ich, vielleicht mehr als andere, Sympathie für die Einheimischen hierzulande. Ich moralisiere nicht über die Ängste jener, die nirgendwohin auswandern müssen, aber dennoch spüren, dass sich auch ihre Welt verändert.

Giuliano Amato, ein berühmter italienischer Professor, Politiker und ehemaliger Innenminister, erzählte mir mal, wie er von einer alten Dame in Rom hörte, die ihre Wohnung vier oder fünf Jahre lang nicht mehr verlassen habe. Sie wohnte in einem dieser Viertel das sich durch Zuwanderung stark verändert hatte. Amato entschloss sich, sie zu besuchen und fragte sie: „Mutter, warum geht Du nicht aus? Hat Dich irgendwer beleidigt?“. Sie erwiderte: „Nein, mein Sohn, du versteht mich nicht, diese Leute haben mir nichts Schlechtes angetan, ich respektiere sie. Es ist einfach nicht mehr mein Viertel. 

Wenn ich ausgehe, ist der Geruch nicht mehr der gleiche, die Gegend ist nicht mehr so wie früher. Darum fühle ich keinen Drang meine Wohnung zu verlassen.“

Wir müssen anerkennen dass sich die Welt nicht nur für die Menschen verändert, die zwangsweise migrieren, sondern auch für jene, die hier leben.

Wir müssen anerkennen dass sich die Welt nicht nur für die Menschen verändert, die zwangsweise migrieren, sondern auch für jene, die hier leben. Aber wir moralisieren eben gern. Den Flüchtlingen halten wir vor: Wieso kommt ihr her? Ihr seid ja keine echten Flüchtlinge, ihr seid doch nur Migranten. Und denen, die vor ihnen Angst haben, werfen wir vor, zu wenig Sympathie für sie aufzubringen. 

Das größte Problem besteht darin, beide – Einheimische wie Geflüchtete – miteinander ins Gespräch zu bringen. Das ist aber von existenzieller Bedeutung. Wir Soziologen wissen, dass Fremdenfeindlichkeit nicht dort am ausgeprägtesten ist, wo es die meisten Geflüchteten gibt, sondern da, wo sie nur als abstrakte Bedrohung wahrgenommen werden. Die Leute sehen zwar keine Flüchtlinge, aber sie spüren wie sehr sich auch ihre Welt verändert hat.

Arp: Wäre eine Lösung im Umgang mit dieser Veränderung, dass wir lernen, friedlich nebeneinander zu leben und dabei weniger auf unbedingter Integration zu bestehen, auf dem Erwerb von Sprachkenntnissen, gutem Benehmen und der Anerkennung unserer Kultur, statt uns einfach nur gegenseitig zu respektieren?

Krastev: Wir glauben oder hoffen, dass die Flüchtlinge zumindest theoretisch zurückkehren wollen. Ich vermute, viele von ihnen wüssten gerne wie und unter welchen Umständen das möglich wäre. Andererseits haben sie und wir keine Ahnung, wie lange sie wirklich bleiben. Das ist die Frage: empfinden sich die Flüchtlinge als Bürger ihrer neuen Heimat? Wenn das so ist, müssen sie sich auch dafür interessieren. Zur Verdeutlichung: Die Golfstaaten verzeichnen die höchste Migrationsrate weltweit – von Arbeitern, wohlgemerkt, nicht von Flüchtlingen – und sie zählen zu den undemokratischsten Staaten überhaupt. In einigen dieser Länder kommen fast achtzig Prozent der Arbeitskräfte aus dem Ausland. Das funktioniert durch Schaffung einer Zweiklassengesellschaft, in der die eine Klasse die andere beherrscht. 

Wenn also das Erlernen der Sprache oder die Interaktion mit der heimischen Bevölkerung keine Rolle spielen, kann man sehr wohl nebeneinander her leben und sich sogar respektieren. Aber das ist dann eben eine geteilte Gesellschaft, mit Menschen erster und zweiter Klasse. 

Es geht beim Spracherwerb nicht nur darum, ob jemand tatsächlich im Land bleibt. Interessant wird es wenn dieser jemand später nach Syrien zurückkehrt und aufgrund seiner Deutschkenntnisse hiesigen Unternehmen, die sich dort engagieren wollen, quasi als Brückenbauer zur Verfügung steht. Die Sprache zu sprechen bedeutet, die Welt auch durch die Augen derer betrachten zu können, bei denen man lebt. Das hat nichts mit Zwang zu tun, sondern damit, sich verständigen, sich einbringen zu können. Andererseits macht es wenig Sinn, von Flüchtlingen komplette Assimilation zu fordern, denn viele wollen ja tatsächlich in ihre Heimat zurück. Doch wer in der neuen Heimat integriert sein und an den Wahlen teilnehmen will, sollte die Grundlagen der Kultur annehmen, nicht nur die Sprache, und ein Verständnis für die Geschichte von, sagen wir, Deutschland oder Österreich entwickeln und für diese Menschen ist es dann auch sehr wichtig die Staatsbürgerschaft erwerben zu können.

Ich fürchte mich vor Gesellschaften, in denen Menschen sich zwar gegenseitig tolerieren, sich dabei aber völlig gleichgültig sind. Das erleben wir ja oft genug mit unseren eigenen Nachbarn, nicht nur mit Ausländern oder Flüchtlingen. Solange es keine Reibepunkte gibt, geht das sogar. Weitaus besser ist es, echtes Interesse füreinander zu entwickeln. Das heißt nicht, in allem einer Meinung zu sein, natürlich gibt es Unterschiede. Aber die sollte man offen kommunizieren und nicht unter den Teppich kehren. Das ist gesellschaftlicher gesünder als jahrelanges Verschweigen von Gegensätzen, wie das in einigen Gastarbeitergesellschaften Westeuropas der Fall war. Auf einmal brechen unbewältigte Konflikte auf und Angst macht sich breit. Denn die Menschen fürchten vor nichts mehr als vor dem was sie nicht wissen.  

Ich fürchte mich vor Gesellschaften, in denen Menschen sich zwar gegenseitig tolerieren, sich dabei aber völlig gleichgültig sind. Das erleben wir oft genug mit unseren eigenen Nachbarn, nicht nur mit Ausländern oder Flüchtlingen.

Gegenseitiges Kennenlernen erfordert es also miteinander zu reden, sich gegenseitig anzuerkennen, in Verbindung zu sein. Das ist, angesichts der populistisch aufgeheizten Debatte darüber, eine ziemliche Herausforderung.

Ja, und am einfachsten geht das nicht auf abstraktem philosophischen Niveau, sondern durch kleine gemeinsame Projekte. Menschen kommen schließlich nicht als Philosophen zur Welt. Wir Bulgaren etwa haben hier in Wien viele bulgarische Freunde, und wir kennen viele Zentral- und Osteuropäer. 

In dieser Hinsicht ist das eine unglaubliche Stadt; aber wie lerne ich hier Syrer und andere Geflüchtete kennen? Es wäre wünschenswert, dass meine Kinder und ihre Kinder gemeinsam in die Schule gehen, und man sich dann auf Elternabenden trifft, gemeinsam Schulangelegenheiten bespricht und erfährt, was unsere Kinder so miteinander machen. Wien ist wegen seines Vielvölker-Erbes im Prinzip eine ideale Stadt dafür. Viele Menschen – man erkennt das schon an der Vielzahl der Namen – haben anderswo ihre Wurzeln, auch wenn das für sie keine Rolle mehr spielt. Man muss wissen, dass der Prozentsatz österreichischer Staatsbürger - und ich meine weder Migranten noch Flüchtlinge - die nicht in Österreich geboren wurden höher ist als der von amerikanischen Staatsbürgern, die ausserhalb der Vereinigen Staaten zur Welt kamen. Darin besteht für mich der Charme einer Gesellschaft wie der österreichischen. Sie ist divers und vielfältig, aber auf harmonische Art und Weise. Hier leben Menschen, die während der Jugoslawienkriege dem jeweiligen feindlichen Lager angehörten. Hier sind sie gemeinsam zu Hause und entdecken dass sie mehr verbindet als trennt. Das ist gar nicht so einfach wenn man bedenkt, wie traumarisiert viele von ihnen sind.

Arp: Sie erwähnen die kleinen Projekte, die uns, Schritt für Schritt, einander näher bringen können. Genau solche Initiativen sollten also staatlich gefördert werden. Der syrische Flüchtling, den ich vorhin erwähnt habe, hat im Rahmen eines solchen Projekts seine Ausbildung zum Sozialarbeiter gemacht. Schwerpunkt war der Kontakt mit jungen Einheimischen und die Förderung interkultureller Akzeptanz. Doch er musste seine Ausbildung abbrechen, denn die Fördergelder wurden durch Einsparungen gerade in diesem Bereich gestrichen. Man verlangt von Geflüchteten sich zu integrieren, streicht ihnen aber zugleich die Möglichkeit, diesem Wunsch ganz pragmatisch nachzukommen.

Krastev: Das wird mit Sicherheit neu überdacht werden. Ich komme aus der Politikwissenschaft, und beschäftige mich viel mit viel mit sicherheitsrelevanten Fragen. Es gibt kein größeres gesellschaftliches Problem als das der Ghettoisierung. Man weiss nicht, was Leute in den sogenannten Parallelgesellschaften denken, was sie  wollen, oder wie sie sich verhalten. Man muss also unbedingt mit ihnen im Gespräch bleiben. Dafür muss es geeignete Formate und Projekte geben. 

Wenn Menschen sich gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen, ziehen sie sich schnell auf eine Art Schwarzmarkt zurück. Sie sprechen nur noch mit ihresgleichen und radikalisieren sich, da es in der Natur eines Schwarzmarktes liegt, illegales Tun zu befördern. Die Rechtfertigung lautet: ich werde hier ausgegrenzt, weil ich Flüchtling bin, weil ich Moslem bin, weil ich dies oder das bin; und damit haben wir ein konkretes Sicherheitsproblem. Es gibt eine Vielzahl von Studien die untermauern, dass die Gefahr, die Westeuropa aus Terrorismus und radikalem Islam erwächst, nicht von den Flüchtlingen stammt, sondern von der zweiten Generation, die bereits in Europa geboren wurde. Wenn also diese Leute nicht an den vielen kleinen Integrationsprojekten teilhaben, wenn sie ihren verlorenen Platz nicht wieder einnehmen, führt das zu Spaltung der Gesellschaft.

Wenn die westlichen Parteien, in Österreich vor allem die FPÖ, wirklich etwas für die Gesellschaft tun wollen, sollten sie Integrationsprojekte fördern und nicht einstellen.

Ein weiteres Problem wird allerdings auch jenen erzeugt, die mehr Härte fordern und meinen, die beste Lösung des Problems bestünde darin, solche Leute zu verhaften und einzusperren. Sie übersehen, dass der radikale Islam in den Gefängnissen am besten gedeiht. In Frankreich etwa sind die meisten Schlüsselfiguren islamischer Terrororganisationen ehemalige Kleinkriminelle, die während ihres Gefängnisaufenthalts rekrutiert und zu echten Gefährden der Gesellschaft wurden. Wenn also die westlichen Parteien, in Österreich vor allem die FPÖ, wirklich etwas für die Gesellschaft tun wollen, sollten sie die erwähnten kleinen Projekte fördern und sie nicht einstellen.

Arp: Gehen wir noch einen Schritt weiter zurück. Es gibt viele Untersuchungen zur Krise des sogenannten „alten weißen Mannes“. Die wird oft auf die 1990er Jahre zurückgeführt, als die Globalisierung um sich griff, und viele Leute sich zurückgelassen fühlten, nicht mehr nachkamen, ihren gesellschaftlichen Absturz befürchteten und die Demokratie zunehmend in Frage stellten. 

Derselbe „alte weiße Mann“ fühlte sich auch durch die zunehmende Emanzipation der Frauen bedroht, also von vielen Seiten her belagert. Das lässt vermuten, dass die Flüchtlingskrise von 2015 allein nicht die Ursache von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus ist, sondern bereits existierende Entwicklungen weiter beschleunigt hat.

Krastev: Dieser Meinung bin ich nicht. Ich arbeite gerade an einem Projekt, in dem das Verhältnis zwischen Demokratie und Demographie untersucht wird. Früher dachten wir, dass sich Regierungen und deren politische Entscheidungen änderten, wenn die Wähler ihre Meinung dazu änderten. Was aber, wenn in Wirklichkeit die demographische Entwicklung, die Neuzusammensetzung der Gesellschaft eine viel wesentlichere Rolle spielt? Meiner Meinung nach geschehen, was den „alten weißen Mann“ betrifft, auch wenn er im Übrigen meist nicht sehr alt ist, drei Dinge. Im weltweiten Maßstab schrumpft die Bevölkerung Europas dramatisch, das wird immer offensichtlicher und dazu gibt es genügend valide Prognosen. Ein viel diskutiertes Buch in Frankreich stellt die Behauptung auf, dass in den kommenden dreißig bis vierzig Jahren knapp dreißig Prozent der Bevölkerung Europas afrikanischer Abstammung sein wird. Wir müssen beginnen, mit derartigen Prognosen zu leben. Viele versuchen, unsere Lebensweise um jeden Preis zu verteidigen, was aber keine einfache Sache ist. Schließlich ist das auch ein ökonomisches Problem: wer trägt die Kosten für die alternde Bevölkerung? Einerseits fordert die Wirtschaft: gebt uns Migranten, worauf die Politik erwidert: das geht nicht, die Leute haben zu viel Angst vor ihnen. Es ist ja auch nicht leicht, Zuwanderer hinreichend qualifiziert in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es reicht nicht, junge Leute im Land zu haben, sie müssen auch angemessen ausgebildet werden.

Dazu kommt noch eine weitere Veränderung, über die noch kaum gesprochen wird. Und zwar eine Invasion, die aber nicht aus Flüchtlingen besteht, sondern aus Robotern. Roboter werden in Zukunft Bestandteil unseres Alltags sein. Ich stelle mir dazu eine weltweite Umfrage vor, in der die Befragten sich äußern ob sie lieber mit einem Roboter oder mit jemandem aus einer anderen Kultur zusammenarbeiten wollen. Welche Option würden sie wählen? 

Würden sich alte Menschen lieber von einem Roboter versorgen lassen oder von einer Person aus einem sehr entfernten Kulturkreis? Es geht in Bezug auf Migration um ganz grundlegende Fragen, nicht allein um Immigration an sich, sondern um Immigration aus Gegenden, die sich kulturell stark von uns unterscheiden. Kann Europa mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft seine Identität bewahren? 

In welchem Ausmass braucht es für die Aufrechterhaltung unserer Normen und Rechte, unserem Verständnis von Freiheit, unserem Verhältnis zu Anderen lediglich einen rechtlichen Rahmen? Oder berührt die Frage weit tiefgründigere Vorstellungen darüber wie sich die Identität unserer Gesellschaft zukünftig entwickelt?

Die, im positiven Sinn, konservative Vorstellung von Gesellschaft beruht darauf, dass sie nicht nur aus den Menschen besteht, die jetzt darin leben. Sie wird auch durch unsere Großeltern und durch unsere Enkel geprägt. Politische Entscheidungen, die heute getroffen werden, versuchen die Wertvorstellungen der Altvorderen ebenso zu berücksichtigen wie die Entwicklungschancen der nächsten Generation. Stellen wir uns nun eine Gesellschaft in etwa dreißig Jahren vor, in der junge Menschen nicht mehr mit jenen verwandt sind, die vor hundert Jahren gelebt haben. Wie müsste eine solche Gesellschaft beschaffen sein, in der biologisch nicht verwandte Generationen dennoch eine gemeinsame Tradition teilen? Wie ließe sich aus dieser Perspektive ganz pragmatisch der europäische „way of life“ definieren? Dabei spielt, neben dem Bruch zwischen den Generationen, die Beziehung von Männern und Frauen eine ebenso bedeutsame Rolle.

Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, in der Frauen besser gebildet sind als je zuvor, manche auch sehr viel besser verdienen werden, und eine Wirtschaftsordnung dominiert, die paradoxerweise Frauen gegenüber viel freundlicher gesinnt ist als Männern, weil einige typische Männerberufe gerade verschwinden?

Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, in der Frauen besser gebildet sind als jemals zuvor, manche auch sehr viel besser verdienen werden, und eine Wirtschaftsordnung dominiert, die paradoxerweise Frauen gegenüber viel freundlicher gesinnt ist als Männern, weil einige typische Männerberufe gerade verschwinden. Was nicht ohne Auswirkung auf die industrielle Arbeit als auch das männliche Prestige bleiben wird. Das wurzelt nämlich im Krieg und darin, zu beschützen was einem gehört. Wir leben zur Zeit aber in einer Nachkriegsgesellschaft. Und selbst wenn es wieder Krieg gäbe, würde es ein ganz anderer Krieg sein, bei dem männliche Courage eine deutlich untergeordnetere Rolle spielen würde.

Es braucht eine Versöhnung all dieser Differenzen. Den Beziehungen zwischen den Generationen in einem sich ständig wandelndem Arbeitsmarkt, den Beziehungen zwischen uns und den Robotern, den Beziehungen zwischen Männern und Frauen – all das wird nicht weniger spannungsgeladen sein als die Beziehungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. In gewisser Weise entdecken wir gerade eine Welt voller Ausländer. Und mitunter betrachten uns unsere eigenen Kinder wie Ausländer von weither. 

Arp: Viele junge Menschen überschreiten zur Zeit bewusst die viel zitierten roten Linien. Wenn sie sich etwa an die Ratschläge der Erwachsenen hielten, würden sie brav nach der Schule für das Klima demonstrieren, und das nicht auf der Strasse, sondern auf dem Gehsteig, um den Verkehr nicht zu behindern. Aber was wären das noch für Demonstrationen? Diese Generation verschafft sich Gehör und entdeckt ihre eigene unverwechselbare Stimme. Glauben Sie, dass sie auch neue Wege finden wird, um diese großen Themen wie Robotisierung oder Migration oder die Neuordnung der Gesellschaft zu bewältigen, die ja nicht aufzuhalten sein wird?

Krastev: Das ist wichtig, denn diese Generation unterscheidet sich sehr, was zunächst weder besser noch schlechter ist. Ich habe wenig Sympathie für Leute, die lamentieren, wie unrecht die jungen Leute haben, oder sie andererseits nur wegen ihrer Jugend bejubeln.

Erstens haben diese jungen Menschen eine komplett andere Vorstellung von Privatsphäre: Was ist privat? Was ist öffentlich? Was ist Gemeinschaft? Sie leben in grösseren und lockeren Netzwerken. Leute, die einander niemals getroffen haben und nur über Social Media miteinander kommunizieren, bezeichnen sich als gute Freunde. Sie haben eine viel höhere Bereitschaft, über ihr Privatleben mit jemandem zu sprechen, die oder den sie nur ein- oder zweimal im Leben getroffen haben. Das Konzept von Freundschaft, das gesellschaftlich gesehen von großer Bedeutung ist, ändert sich dramatisch.

Zweitens kann ich mich gut daran erinnern, als ich – in der Zeit vor Social Media – von der Schule nach Hause kam. Meine Grosseltern waren da, nur sie und ich, weil meine Eltern in der Arbeit waren. Wenn ich mit jemandem reden wollte, ging das nur mit meiner Grossmutter und meinem Grossvater, die natürlich ihre eigene Ansicht vom Leben und der Geschichte hatten. Die Beziehung zwischen den Generationen war damals durch die Abwesenheit anderer Gesprächspartner geprägt. 

Jetzt würde ein junger Mensch, wenn nur er und seine Grosseltern zu Hause wären, via Smartphone vor allem mit seinen Altersgenossen kommunizieren. Diese neue intensive Kommunikation innerhalb der eigenen Generation reduziert den Einfluss der Älteren. Das ist entscheidend, denn wenn man sich, zum Beispiel, mit dem Zweiten Weltkrieg befasst und die eigenen Grosseltern vielleicht beim Militär waren oder sich noch gut an diese Zeit erinnern, kann man aus ihren Erzählungen Dinge lernen, die in keinem Buch zu finden sind.

Jetzt würde ein junger Mensch, wenn nur er und seine Grosseltern zu Hause wären, via Smartphone vor allem mit seinen Altersgenossen kommunizieren. Diese neue intensive Kommunikation innerhalb der eigenen Generation reduziert den Einfluss der Älteren.

Der dritte Punkt beruht auf einer grossen Studie, die die Rand Corporation in den Vereinigten Staaten durchgeführt hat. Sie untermauert, dass die junge Generation kein Verhältnis mehr zum Begriff Karriere hat. Karriere bedeutet ihnen wenig, sie sind sehr mobil, sehr an Veränderung interessiert, aber nicht linear aufwärts gerichtet. Veränderung, das ist für sie einfach eine andere Richtung. Rand hat diese Studie für das Pentagon durchgeführt, weil man sich dort Gedanken über junge Leute machte, die sich für die Spezialeinheiten ausbilden lassen wollten. So etwas ist natürlich extrem kostspielig. Diese jungen Leute meinten, sie würden schon zehn Jahre lang dienen, weil das eine tolle Erfahrung wäre. Sie würden sich testen, später aber keine Generäle werden wollen. Sie würden dann viel lieber andere Erfahrungen machen, zum Beispiel als Chefkoch in einem interessanten Restaurant. Die Idee dass jemand aufgrund dieser ungeheuer teuren Ausbildung später statt General Koch wird, war für die Militärplaner ein Alptraum. Aber so ist diese Generation: sie wollen unterschiedliche Erfahrungen an unterschiedlichen Orten sammeln, ein anderes Leben haben. Nach herkömmlichem Denkmuster muss man zu Beginn der Karriere Entscheidungen treffen, und dann die gesamte Energie da hinein investieren. Du bist Arzt, du willst der beste Arzt werden, du bist Akademiker und willst der beste Professor deines Fachs sein. Das steht für sie nicht im Vordergrund. 

Natürlich ist niemand Geld gegenüber gleichgültig, aber das gehört für sie zu einer anderen Art von Lebensstil. Es geht darum welche Erfahrungen man damit machen und was für Geschichten man erzählen kann. Es ist eine Generation, in deren bisherigem Leben noch nichts wirklich Grossartiges geschah. Sie suchen für sich nach Bedeutung. Junge Leute, die aus der Perspektive ihrer Eltern nichts zustande gebracht haben, dies und das machen, in Clubs abhängen - und dann plötzlich, mit achtzehn, wollen sie als Freiwillige in Afrika oder in einem Kriegsgebiet helfen. Das ist doch keine einfache Sache für einen jungen Menschen, als Freiwilliger irgendwas in Afrika zu machen. Derselbe junge Mensch könnte sich zwar vor Ausländern in seiner vertrauten Umgebung sorgen, gleichzeitig will er aber losziehen und ein Risiko eingehen. Ich glaube, in einer Gesellschaft, in der Arbeit wohl nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie früher, ist dieser Kampf um die eigene Bedeutung sehr wichtig. Wie kann man Bedeutung für sich erschaffen? Im Kontext unseres Interviews lässt sich die Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden und dem Versuch der Versöhnung mit ihnen als Erschaffung von Bedeutung verstehen, als mutige Auseinandersetzung mit ganz realen Problemen.

Arp: Die Notwendigkeit für mehr Kooperation und Kommunikation zwischen den Generationen, der Umgang mit den Bedrohungen, die auf uns zukommen, die neue Arbeitswelt, die Digitalisierung der Gesellschaft, Migration. Das sind sehr viele Herausforderungen auf einmal. Welche Art von Widerstandsfähigkeit, von Resilienz vielleicht, müssten wir entwickeln, um diese Probleme zu bewältigen, um die Debatte darüber zu beruhigen, um gelassener damit umzugehen?

Krastev: Ich glaube, wir sollten neugierig sein. Wir sollten uns nicht vor der Zukunft fürchten. Die europäische Union, das europäische Projekt beruht im Kern auf der Angst vor der Vergangenheit. Jetzt ist es in der Krise, weil die Leute die Vergangenheit nicht mehr fürchten, doch nun sie fürchten sie die Zukunft, die ihnen unbekannt ist. Angst vor der Zukunft tut aber keiner Gesellschaft gut. Daher sollten wir eine Zukunfts-Neugier entwickeln. Zweitens, da hast du absolut recht, sollten wir gelassener sein. Die Sprache verrät ja viel darüber woher Menschen kommen. 

Wenn man jemandem auf Englisch nahebringen will, dass er sich beruhigen solle, sagt man ihm, er solle sich entspannen. Just relax. Auf Bulgarisch würde der gleiche Ratschlag lauten, tougher zu werden. Ich glaube es ist besser, sich zu entspannen.

Arp: Was ist – auf dem Weg in diese ganz andere Zukunft – Ihre grösste Befürchtung?

Krastev: Die Welt verändert sich rasend schnell, und das wissen wir auch. Doch obwohl uns das klar ist, versuchen wir,  diese  Veränderungen mit Hilfe der Sprache, der Begriffe und der Empfindungen der Welt von gestern zu verstehen. Das kann ziemlich schief gehen, denn dabei gehen wir in die Irre. Es ist uns auf diese Weise schlicht unmöglich, Veränderungen wahrzunehmen und sie zu gestalten.

Arp: Was macht Ihnen im Alltag, bei der Kommunikation mit vielen anderen, was macht Ihnen beim Reisen - und damit hat unser Gespräch ja begonnen - am meisten Hoffnung?

Krastev: Ich bin in mancher Hinsicht ein komisches Tier. Ja, ich reise wirklich sehr viel und treffe auf unzählige Menschen, andererseits verwende ich kein Mobiltelefon und haben keinen Social Media Account. Ich glaube aber, dass ich es schaffe, wirklich neugierig auf Menschen zu sein. Ich versuche ihnen und ihren Geschichten zuzuhören. Eines ist mir wichtig: es geht nie darum, Leute zu beurteilen und zu belehren. Versuche ihnen nie zu sagen, wie sie ihr Leben leben sollten. Versuche vielmehr zu verstehen warum sie denken wie sie denken, warum sie tun was sie tun, und zeige ihnen dass dich das wirklich interessiert. Diese Art von Anteilnahme ist die Quelle jeglichen Respekts. Ohne Anteilnahme gibt es keinen Respekt, weil Respekt ohne Anteilnahme nur Heuchelei ist.


Vielen Dank für das Gespräch.