Seenotrettung im Mittelmeer: Warum wir tun, was wir tun

In ihrem zweiten Beitrag beschreibt Hanna das Training vor dem Einsatz. Und warum diese Mission für sie so wichtig ist.

von
Hanna Winter
und

Mit Vorfreude und Nervosität fuhr ich nach Palermo und zurück auf die Sea-Eye 4. Nach 5 Monaten wieder an diesen vertrauten Ort zu kommen, war eine große Freude. Stück für Stück reiste die Crew der letzten Mission ab und meine Crewkolleg*innen an.

Die Crew ist sehr international und auch vom Alter her sehr gemischt, die jüngste ist Studentin und 23 Jahre alt, die älteste ist eine Ärztin in Rente mit 66 Jahren. Es gibt erfahrene Seefahrer*innen und Schiffsneulinge, mit viel und auch mit weniger praktischer Seenotrettungserfahrung.

Wir kommen von drei Kontinenten aus zwölf Ländern - aus Kroatien, Deutschland, Nigeria, Polen, Österreich, Ghana, Spanien, Japan, Frankreich, Südafrika, Italien und England.

Ein wichtiger Aspekt der ersten gemeinsamen Tage an Bord ist für mich immer das Kennenlernen der Crewkolleg*innen, denn wir müssen uns während der Einsätze absolut aufeinander verlassen können und uns vertrauen. Die ersten Trainingstage vergehen wie im Flug.

Auf der Tagesordnung stehen Übungen, die unsere Sicherheit an Bord gewährleisten, wie der Umgang mit der persönlichen Sicherheits-Ausrüstung, Kennenlernen des Sicherheits-Equipments, sicheres Verhalten an Bord und im Brandfall.

Diejenigen, die zum ersten Mal dabei sind, haben viel Neues zu lernen und zu entdecken, aber auch für mich ist es wichtig, zu wiederholen und zu vertiefen.

Hanna lernt zu retten - und sich zu retten

Wir bereiten uns theoretisch und praktisch auf alle möglichen Szenarien vor, die uns im Laufe des Einsatzes begegnen können. Alltägliche Aufgaben werden besprochen und trainiert - wenn Gerettete an Bord sind über die Essensausgabe bis hin zu Notfällen und Krisenszenarios mit vielen Verletzten, wo ein Triage-System angewendet werden muss.

Einen wichtigen Stellenwert haben die medizinischen Trainings, damit wir alle im Ernstfall wissen, wo was zu finden ist, wie wir richtig reagieren und das medizinische Team bei ihrer Arbeit unterstützen können.

Daneben bereitet sich jedes Team individuell auf die eigenen Aufgaben vor. Ich begleite die Mission als Köchin. Meine Co-Köchin und ich kennen uns bereits und arbeiten schon nach den ersten paar Tagen Hand in Hand.

Die Tage im Hafen haben wir vor allem genutzt, um unseren Arbeitsplatz kennenzulernen, Absprachen mit anderen Teams zu treffen, mit denen wir zusammen arbeiten, Vorräte zu sortieren, uns auf das Kochen für bis zu Hunderte von Personen vorzubereiten…

Ganz konkret wurde es dann, als die große Lieferung an Lebensmitteln und Getränken kam und wir den ganzen Tag damit beschäftigt waren, Vorräte zu zählen, mit den Lieferscheinen abgleichen und alles wellen-sicher zu verstauen, sodass es bald losgehen konnte.

Hannas Arbeitsplatz: Blick aus der Kombüse

Bei all den theoretischen und praktischen Vorbereitungen wird uns bewusst, dass wir hier einen sehr herausfordernden Job machen und nicht zu vergessen, dass die meisten von uns Zivilisten und eben keine erfahrenen Seefahrer*innen bzw. Seenotretter*innen sind.

Wir trainieren täglich für eine Aufgabe, die überaus fordernd und komplex ist, und daher eigentlich flächendeckend von professionellen Seenotrettungsinstitutionen für alle Menschen in Not durchgeführt werden sollte.

Warum wir diese Arbeit trotzdem machen?

Das frage ich mich auch manchmal. Zum Beispiel, wenn es auf vergangenen Missionen besonders mühsam wurde, als ich mal wieder seekrank im Bett lag oder mich übergeben musste. Oder als wir in 44 Stunden ca. 800 Menschen aus sieben seeuntauglichen Booten retteten, mit einer 5-stündigen Schlaf-Pause und ich absolut an meine Belastbarkeitsgrenze kam.

(Hier der Link zur Podcast-Episode mit Hanna über diese Mission)

Die kurze Antwort ist, dass Zivilisten diese gefährliche Arbeit auch übernehmen müssen, weil die europäischen Länder ihrer Pflicht zur Rettung aller Menschen in Seenot nicht ausreichend und manchmal gar nicht nachkommen.

Die Reise über das Mittelmeer ist mit durchschnittlich mindestens fünf bis sechs Toten pro Tag eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, gefährlicher ist nur die Flucht durch die Sahara.

Verschiedene Strecken führen von Afrika nach Europa: die östliche Route von der Türkei auf die griechischen Inseln, die westliche Route von Marokko nach Spanien und die sehr gefährliche Route von westafrikanischen Ländern auf die Kanarischen Inseln über den Atlantischen Ozean.

Wir operieren mit der Sea-Eye 4 auf der zentralen Mittelmeerroute, auf der in der Vergangenheit die meisten Schiffsunglücke passierten. Wir sind stets in internationalen Gewässern, in der Nähe der Küsten von Italien, Malta, Tunesien und Libyen.

Besonders viele Menschen starten rund um die libyschen Küstenstädte, doch auch immer mehr Menschen auf der Flucht besteigen die Flucht-Boote über das Mittelmeer in Tunesien.

Die Lebensbedingungen für schwarze Menschen sind besonders in Libyen katastrophal. Geflüchtete werden dort illegalisiert. Sie leben in ständiger Angst, verschleppt zu werden und landen danach überwiegend in Internierungslagern, wo sie systematisch Folter, Versklavung, Missbrauch und Gewalt erfahren.

Wer diese Lager überlebt und irgendwie an Geld kommt, flieht über das Meer, mit der Hoffnung, es nach Europa und in eine sicherere Zukunft zu schaffen, oder irgendwie gerettet zu werden.

(Hier der Link zur Podcast-Episode mit Filimon Mebrhatom, der die Flucht durch die Wüste, libysche Lager und die Fahrt über das Mittelmeer wie durch ein Wunder überlebte)

Flucht über das Meer: Eine Reise ins Ungewisse

Die sogenannte libysche Küstenwache, die größtenteils aus Milizen besteht, fängt eine große Anzahl an Geflüchteten auch mithilfe von Frontex ab und bringt sie illegal zurück nach Libyen.

Frontex ist die am besten finanzierte Agency der Europäischen Union, ausgestattet mit Flugzeugen und hochmodernen Drohnen, mit denen sie bestens über die Position von Booten in Seenot informiert ist. Aber sie betreiben keine Schiffe in dieser Region, um selbst keine Rettungen durchführen zu müssen.

Sie nehmen allerdings aktiv Kontakt zur sogenannten libyschen Küstenwache auf, um auf den Seenotfall aufmerksam zu machen, und provozieren damit sogenannte Pushbacks, die laut dem „Non Refoulement“ Abkommen der Genfer Flüchtlingskonvention illegal sind.

Die Gründe für eine Flucht aus dem Heimatland oder der -Region sind vielfältig. Kriegerische Auseinandersetzungen, Verfolgung aufgrund der Hautfarbe, Ethnie, Religion, sexueller oder politischer Orientierung, Folgen des Klimawandels, wie Dürren und Hungersnöte, und vieles mehr.

Asylsuchende Personen sind Menschen auf der Flucht aus ihrem Heimatland, die laut europäischem und internationalem Gesetz zu schützen sind, weil sie Schutz in einem europäischen Land bzw. in Europa anfragen. Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass diese Personen in das Land, aus dem sie fliehen, zurückgebracht werden.

Was wir brauchen, um das Sterben im Mittelmeer zu verhindern? Die Lösungen sind komplex, erfordern viel diplomatisches Geschick und politische Stärke.

Doch eines ist sicher: Wir brauchen sichere Fluchtwege und konkrete Lösungsansätze und nicht mehr Abschottung, die zu mehr Leid und Toten führt. Solange es diese nicht gibt, sich Staaten nicht einigen können, ertrinken da draußen Tag für Tag Menschen im Meer. Weil wir dabei nicht zuschauen wollen, tun wir, was wir tun.

Anfang des Jahres absolvierte ich den „Basic Safety“-Lehrgang an der Seeschifffahrtsschule in Rostock. Dort lernten wir die Grundlagen des sicheren Arbeitens auf Schiffen, um noch besser für die Aufgaben an Bord eines Rettungsschiffes vorbereitet zu sein. Eindrücklich blieb mir in Erinnerung, wie viel Aufwand betrieben wird, um die Sicherheit der Crew und Passagiere an Bord von Schiffen zu gewährleisten.

In den Schilderungen meines Lehrers wurde mir immer wieder eindrücklich bewusst, wie nach zweierlei Maß mit Menschen in Seenot umgegangen wird. Der Unterschied? Die Herkunft.

Internationales Seerecht besagt, dass das Retten von Menschen in Seenot die Pflicht eines jeden Seefahrers ist.

Während die sogenannte libysche Küstenwache mit von Europa finanzierten Waffen auf Geflüchtete im Wasser zielt, und es kaum jemanden zu interessieren scheint, drehen Kreuzfahrtschiffe um, wenn nur eine Person über Bord geht, und es werden keine Mühen oder Kosten gescheut, um diese Menschen zu bergen. Während es auf Kreuzfahrtschiffen viel mehr Schwimmwesten als Menschen an Bord gibt, werden zivile Seenotrettungsschiffe festgesetzt, weil sie zu viele Schwimmwesten mitführen.

Die Menschen, die wir retten, sind für uns im Moment der Rettung zuallererst Menschen in Seenot. Ihnen steht dasselbe Recht zu, wie allen, die in Seenot geraten: die Rettung. Und sobald sie bei uns an Bord sind, ist es unsere Pflicht, sie an einen sicheren Ort zu bringen.