Alles und Nichts

Die Sea-Eye 4 ist jetzt im "Search and Rescue" - Modus im Mittelmeer unterwegs. In ihrem dritten Beitrag schildert Hanna, was das bedeutet. Und den Alltag an Bord unter verschärften Bedingungen prägt.

von
Hanna Winter
und

Auf der Reise zu meiner ersten Mission im Sommer des letzten Jahres nahm ich mir vor, alles anzunehmen, was passieren wird und das Beste daraus zu machen. An dieses „Motto“ muss ich wieder denken, als ich still an der Reling stehe, während wir aus dem Hafen von Palermo auslaufen.

Es ist ein besonderer Moment, den ich bewusst erleben will. Eine Herausforderung, auf alles vorbereitet zu sein und trotzdem nichts zu erwarten. Wir werden ab jetzt viele Dinge nicht steuern, nur darauf reagieren können, was passiert. 

Wir könnten viele Rettungseinsätze haben, viele Menschen aus Seenot retten, es kann passieren, dass wir gar keine Rettung haben, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Was ist, wenn das Wetter so schlecht ist, dass wir nicht operieren können?

Wie würde es sein, wenn wir der sogenannten libyschen Küstenwache „begegnen“? Wir können tragische Rettungen mit Toten und Verletzten erleben, es kann aber auch unter guten Bedingungen alles reibungslos wie trainiert ablaufen.

Wir fahren östlich um Sizilien herum, durch die Straße von Messina, wo sich das italienische Festland und Sizilien fast berühren. Es ist 5.50 Uhr, als mein Wecker an diesem Morgen klingelt, damit ich den Ausblick und Sonnenaufgang an diesem besonderen Ort genießen kann.

Es duftet nach Flieder, das frühe Aufstehen hat sich gelohnt. Am Tag vorher sprangen beim Training unserer Einsatzboote ein paar Delfine um die Boote und erfreuten uns alle. Das Leben an Bord eines Rettungsschiffes schenkt auch fröhliche Momente und lässt uns diese Mission auf eine besonders schöne Weise beginnen. 

Ich bin dankbar, noch Zeit zu haben, um das Training fortzuführen und zu vertiefen. Ebenso wichtig ist es mir neben all der Arbeit, meine Kolleg*innen kennen zulernen, ihre Sorgen anzuhören, Vertrauen aufzubauen, Stärken und Schwächen zu kennen und schöne Momente zusammen zu erleben. Zum Beispiel beim abendlichen Kartenspielen oder der gemeinsamen Mittagspause.

Training mit den RHIBs - den Schnellbooten, die als erstes Kontakt mit Schiffbrüchigen aufnehmen. ©Joe Rabe

Die Zeit des Transits auf dem Weg in unser Einsatzgebiet vor der libyschen Küste nutzen wir für weitere Trainings. Da die Crew der Einsatzboote im Hafen von Palermo nicht praktisch im Wasser trainieren konnte, tut sie dies nun ganz intensiv.

Damit wir Boote in Seenot finden, wechseln wir in der Gegend rund um Lampedusa und Malta in den SAR-Modus (SAR = Search and Rescue = Suche und Rettung). Das bedeutet, dass immer 2-3 Personen zusätzlich zur Besatzung der Brücke mit Ferngläsern und dem Gehör nach möglichen Booten in Seenot suchen.

Das erfordert viel Konzentration und strengt die Augen enorm an, gleichzeitig finde ich es auch sehr meditativ, auf dem höchsten Punkt des Schiffes zu stehen und den Überblick über die Weite des Meeres zu haben. 

Wenn es so weit ist, dass wir Menschen von seeuntauglichen Booten evakuieren müssen, verlasse ich meine eigentliche Position in der Küche und bin Teil des Einsatzteams an Deck. Sobald die Geretteten an Bord kommen, gibt es einen kurzen medizinischen Check, um diejenigen zu identifizieren, die schnelle medizinische Hilfe brauchen.

Alle Geretteten werden von mir und meiner Kollegin Kasia registriert, danach gibt es einen Sicherheitscheck zu ihrer und unserer Sicherheit. Sie werden in die an Deck installierten Container begleitet, in denen sie sich ausruhen können, etwas Wetterschutz bekommen sowie eine Notversorgung mit Wasser und hochkalorischen Riegeln. 

Viele der Geretteten sind mehrere Stunden bis einige Tage auf den Booten unterwegs, mit mangelnder Lebensmittelversorgung. Sie sind Wellen, Hitze, Kälte, Sonne und der extremen psychischen Belastung ausgesetzt.

Die meisten Menschen kommen dehydriert an Bord der Sea-Eye 4. Einige haben chemische Verbrennungen durch das toxische Gemisch aus Benzin, Fäkalien und Meereswasser in den Booten.

Größere Verletzungen werden sofort versorgt und in den ersten Tagen an Bord bekommt jede*r die Möglichkeit, das medizinische Team zu sehen und gegebenenfalls behandelt zu werden. Ich habe erlebt, dass Menschen das Bewusstsein verlieren, sobald sie in Sicherheit auf unserem Schiff sind. Alles kann passieren.

Die Sea-Eye 4 im "Search and Rescue" - Modus: immer auf der Suche nach Menschen in Seenot. ©Joe Rabe

Wir waren kaum in die maltesische SAR-Zone eingelaufen, da bekamen wir am 24.4. von „Alarmphone“ die Nachricht über ein Boot in Seenot in unserer Nähe. Alarmphone ist eine NGO, die eine Hotline für Geflüchtete in Seenot betreibt und diese Fälle meldet. Wir machten uns sofort auf den Weg dorthin. Das Such-Flugzeug von„Pilotes volontairs“ entdeckte das Boot aus der Luft und begleitete es einige Zeit.

Von ihnen erfuhren wir, dass die Personen an Bord ein Signalfeuer angezündet hatten. Vermutlich, um in ihrer Verzweiflung auf sich aufmerksam zu machen, weil ihnen niemand zu Hilfe kam. Das Team für die Einsatzboote bereitete sich also auch darauf vor, eventuell das Feuer an Bord des Bootes zu löschen, was ein zusätzliches Risiko ist. 

Am späten Vormittag entdeckten wir das Boot, doch es war leer, ein Motor verschmort. Wir kamen näher und konnten sehen, dass das Datum dieses Tages in roter Farbe auf das Boot gesprüht war. Ein Zeichen, dass die Personen an Bord von der italienischen Küstenwache gerettet wurden. Wir waren froh zu wissen, dass sie in Sicherheit gebracht wurden, und fuhren weiter Richtung Libyen. Ein guter erster Tag in der SAR-Zone.

Der Tag danach verlief ruhig, wir fuhren ein bestimmtes Suchmuster ab, kamen an ein paar größeren Fischerbooten und Frachtschiffen vorbei, sahen die Ölplattform, die wir nun öfter sehen werden und einige Fischernetze im Wasser treiben. 

Wir hörten von einem Seenotfall östlich von Tripolis, viel zu weit weg für uns. Aber unsere Kolleg*innen von der „Ocean Viking“ kamen rechtzeitig und konnten alle70 Personen retten. Ein zweiter guter Tag in der SAR-Zone.

Abendstimmung an der Straße von Messina. ©Hanna Winter

Diese Tage sind ganz besonders, weil wir Tag und Nacht in Alarmbereitschaft sind. Wir fangen an, eine Mahlzeit zu kochen und es kann sein, dass wir sie erst am nächsten Tag zu uns nehmen, weil eine Rettung „dazwischen“ kommt.

Wir versuchen immer genug gegessen zu haben und die freie Zeit zum Schlafen zu nutzen. Wir gehen schlafen und wissen nicht, ob wir vom Wecker oder vom Einsatz-Alarm geweckt werden. Alles kann passieren.